Die Entwicklung der Roten zwischen Momentaufnahme und Spitzenmannschaft (Teil 2)
ein Kommentar von Christian Heuer
Im ersten Teil des Gastbeitrags habe ich einen Blick zurück auf die vergangene Saison und die Transfers im Sommer geworfen sowie den bisherigen Saisonstart von Hannover 96 betrachtet. In Teil 2 ordne ich nun die Leistungen der Roten ein, nehme den Kader unter Lupe und versuche die Aufstiegschancen einzuschätzen. Mit 15 Punkten nach neun Spieltagen und Tabellenplatz 5 lässt sich der Start in die Saison 2023/24 als erfolgreich bezeichnen.
Die Mannschaft um Trainer Stefan Leitl zeigte insgesamt stabile Leistungen und agierte in den direkten Duellen mit anderen Teams aus dem oberen Tabellendrittel (Hamburg, Düsseldorf, Kaiserslautern) auf Augenhöhe, konnte sich in diesen Partien jedoch mit nur einem Punkt belohnen. Interessanterweise zeigt der Saisonstart Parallelen zum Vorjahr, wo die Roten sogar noch besser gestartet sind – Platz 4 mit 17 Punkten nach neun Spieltagen. Jedoch gelang es dem runderneuerten Kader damals nicht, diese Leistungen konstant über die Saison abzurufen, sodass am Ende mit Platz 10 lediglich ein Mittelfeldplatz heraussprang. Neben dem vergleichbaren Saisonstart ist auch der Kern der Mannschaft nahezu derselbe wie in der Vorsaison. Zudem setzt Trainer Leitl seit vier Spieltagen mit Zieler, Neumann, Halstenberg, Arrey- Mbi, Dehm, Kunze, Leopold, Köhn, Schaub, Nielsen und Teuchert auf dieselbe Startformation. Lediglich Schaub wurde in Kaiserlautern aufgrund einer Verletzung von Voglsammer ersetzt.
Abgesehen von Neuzugang Halstenberg (für Börner) und Leopold (für Besuschkow) zählten alle anderen Spieler bereits in den letzten Spielen der Vorsaison zur Startelf. Das Team zeigt sich gut
eingespielt, die Abstimmungen in den verschiedenen Mannschaftsteilen scheinen vermehrt ineinander zu greifen und die Elf gewinnt zunehmend an Passsicherheit. Möglicherweise stellt sich
die durchschnittliche Vorsaison als glücklicher Umstand heraus, da es keinem Spieler so richtig gelungen ist, sich auf den Einkaufszettel besser positionierter Vereine zu spielen. So wurde Niemand abgegeben, den man nicht abgeben wollte.
Auf der Zugangsseite ist den Roten mit dem Transfer von Marcel Halstenberg vermutlich der Königstransfer der gesamten zweiten Liga gelungen, der vor knapp über zwei Jahren noch bei der EM
2021 für Deutschland gegen Portugal zum Einsatz kam und mit 32 Jahren hoffentlich noch einige gute Jahre vor sich hat. Mit Torhüter und Weltmeister Ron-Robert Zieler bildet Halstenberg das stärkste und erfahrenste Duo aus Torhüter und Abwehrchef der gesamten Liga. An ihrer Seite gelingt es Neumann und Arrey-Mbi zunehmende Sicherheit im Defensivverbund zu gewinnen. Die
Schienenspieler Köhn (3 Tore) auf links und Dehm (2 Vorlagen) auf rechts schaffen es, wichtige offensive Impulse zu setzen. Vor der Abwehrreihe hat sich Fabian Kunze stabilisiert. Während er im Vorjahr in jedem zweiten Spiel eine Verwarnung sah (14 Gelbe, 1 Rote), ist er diese Saison bisher noch ohne Karte. Zusammen mit Leopold schafft es Kunze das Mittelfeldzentrum zu schließen und dem Spiel Struktur zu geben. Jedoch warten beide Spieler noch auf ihr erstes Tor im Trikot der Roten und sollten somit an ihrer Torgefahr arbeiten. Diese zeigten im bisherigen Saisonverlauf vor allem die Offensivkräfte.
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Mit 20 Toren hat Hannover in dieser Saison bisher die meisten Tore aller Teams erzielt. Dabei bildeten Teuchert (10 Scorer), Tresoldi (5), Nielsen (5) und Schaub (3) eine
geschlossene und für den Gegner schwer auszurechnende Einheit. Elementar für den weiteren sportlichen Erfolg werden zudem die Entwicklungssprünge der jungen Spieler sein. Gelingt es Arrey-Mbi (20), Leopold (23) und Tresoldi (19) in Ihrer zweiten Saison bei 96 den nächsten Schritt zu gehen und sich sogar zu Leistungsträgern zu entwickeln? Besonders Arrey-Mbi und Tresoldi, die beide im September bereits für die deutsche U-21 Nationalmannschaft berufen wurden, lassen einiges für die Zukunft erhoffen. Aber auch die Youngster aus der zweiten Reihe um
Lührs (20), Ezeh (22), Damar (19), Foti (19), Oudenne (21), Scott (21) oder Momuluh (21) haben großes Entwicklungspotential, bekommen immer wieder ihre Einsatzzeiten und erhöhen den Druck auf die Stammkräfte.
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Ein Blick auf die Breite des Kaders lässt hoffen, dass es der Mannschaft gelingen könnte im Falle von Verletzungen oder Krankheiten Spieler ohne größeren Leistungsabfall adäquat zu ersetzen. So lauern neben den genannten jungen Spielern arrivierte Kräfte um Muroya, Besuschkow, Christiansen, Ernst und Voglsammer auf ihre Chance. Besonders bemerkenswert ist die Tatsache, dass Trainer Leitl bereits 25 Spieler in der bisherigen Saison eingesetzt hat. Jeder bekommt die Gelegenheit sich zu zeigen, was zudem der guten Stimmung im Team sehr zuträglich ist.
Wie gut der Kader wirklich ist, lässt sich vermutlich erst nach Ablauf der Hinrunde beantworten. Vermeintlich waren die bisherigen Gegner in der ersten Hälfte der Halbserie von der Spielstärke
etwas einfacher. Insbesondere die drei Heimspiele gegen die Aufsteiger Elversberg, Osnabrück und Wehen Wiesbaden zählten zu den leichteren Spielen. Im weiteren Verlauf der Hinrunde folgen schwere Duelle mit den Absteigern Schalke und Hertha, das Derby Anfang November sowie die Auswärtsspiele bei den ebenfalls stark gestarteten Teams St. Pauli und Holstein Kiel. Außerdem sind die Partien gegen Magdeburg, Karlsruhe und in Paderborn erfahrungsgemäß allesamt nicht zu unterschätzen. Die Mannschaft und das Umfeld tun gut daran, weiter von Spiel zu Spiel zu denken und den Moment zu genießen, aktuell verdientermaßen den Top 5 Teams anzugehören. Dennoch sollte man demütig genug bleiben, da die Liga einfach sehr stark und ausgeglichen ist und sich bereits nach zwei bis drei schwächeren Spielen in der unteren Tabellenhälfte wiederfinden würde.
Einen faden Beigeschmack hinterlassen jedoch zwei spielentscheidende Fehlentscheidungen zu Elfmetersituationen des Gegners – der skandalöse Elfmeter für Nürnberg in der Nachspielzeit, der
zum finalen 2:2 führte, und der überaus fragwürdige Strafstoß für Kaiserlautern kurz vor dem Pausenpfiff ohne Eingriff des VAR. Beim Thema Spielglück hat das Team also für den weiteren
Saisonverlauf noch einiges Gut. Großes Entwicklungspotential in Form von Souveränität und Stabilität über die vollen 90 Minuten hat 96 in den direkten Duellen mit Gegnern aus dem oberen Tabellendrittel. Trotz spielerischer Ausgeglichenheit in den Partien sowie der Überzahl gegen Hamburg über die nahezu gesamte zweite Halbzeit sowie den zwischenzeitlichen Führungen gegen Düsseldorf und Kaiserslautern, wurde in diesen Spielen nur ein Punkt geholt – zu wenig, um sich dauerhaft oben festzusetzen. Der schwache Saisonstart des hoch gehandelten Absteigers Schalke könnte die Chancen erhöhen, im Aufstiegskampf eine entscheidende Rolle zu spielen, da die Königsblauen bereits acht Punkte hinter den Roten liegen. Selbst der Hamburger SV zeigte nach einem überzeugenden Saisonstart in den Auswärtsspielen bei den Aufsteigern Elversberg, Osnabrück und Wehen Wiesbaden überraschende Schwächen. Über die gesamte Spielzeit wird, wie so häufig in Liga 2, neben der individuellen Qualität die mannschaftliche Geschlossenheit und vor allem Konstanz von elementarer Bedeutung sein.
Zudem soll an dieser Stelle die Rolle der Fans nicht unerwähnt bleiben. Hier scheint sich eine neue Verbundenheit zwischen Mannschaft und Support zu entwickeln, welche in den vergangenen Jahren in der Form leider wenig vorhanden war. Ein lautstarker und enthusiastischer 12. Mann wird dem Team helfen, kritische Situationen zu überstehen oder Spiele zu drehen.
Insgesamt kann der Saisonstart der Roten in vielerlei Hinsicht als Aufschwung bezeichnet werden. Ob sich das Team zu einem ernsthaften Aufstiegskandidaten in einer starken und ausgeglichenen Liga entwickelt, werden die nächsten Monate zeigen – das Potential ist vorhanden und die Kontinuität im Kader eine gute Voraussetzung. Von Aufstieg möchte ich zu diesem Zeitpunkt nicht sprechen, dafür ist das Fußballgeschäft zu schnelllebig und die Saison noch viel zu lang. Träumen darf aber erlaubt sein, denn wie schön wäre es im Mai vor dem Rathaus mit Fury und der Mannschaft gemeinsam „Won’t forget these days“ zu singen?
Die Lieblingsfolgen vom 96Freunde-Podcast mit Altin Lala, Florian Fromlowitz und Ewald Lienen. Viel Spaß beim Reinhören!
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