„Expertenmeinung“ geballt mit Zündstoff

Gegen Düsseldorf war der 12. Mann erneut voll da und pushte das Team zum hochverdienten Ausgleich.

Wir haben in Nürnberg nach 2:0-Führung noch 2 Buden bekommen und fahren frustriert zurück nach Hannover. Sowas nervt, das ist klar. Was mir persönlich aber noch mehr auf den Keks geht, sind diese ständigen Falschinterpretationen unserer Spiele, die im Internet als Expertenmeinungen verkauft werden.

Liebe Leser, die 96Freunde gibt es jetzt schon so viele Jahre und wir haben neben all den Emotionen auch immer versucht, Euch mit Zahlen zu füttern, sowie Taktiken und Zusammenhänge zu erklären. Wir haben die Weisheit auch nicht mit Löffeln gefressen, aber glauben ganz fest an die Statistiken, die uns nach jedem Spiel von verschiedenen Anbietern mundgerecht vorgelegt werden und die wir zu lesen gelernt haben. Versucht es bitte auch, guten Appetit!

Es kann passieren, dass man vor seinem Laptop auf der Terrasse ein Spiel etwas anders wahrnimmt, zudem mit dem ein oder anderen Kaltgetränk intus. Aber dann sind hinterher auch bitte, bitte, bitte die Finger still zu halten, bevor man schon wieder gegen die eigenen Spieler stänkert. Oft fehlen nämlich einfach auch klare Argumente, oder schlicht die Sicht oder die Zahlen, um den eigenen Unmut zu belegen. Meinung ist selten eine Expertise. Frust muss raus, gar keine Frage. Aber wie in der schönen Welt momentan da draußen, wo jeder jeden ankackt, sollten auch wir Fans lernen durchzuatmen…

Die Spieler geraten (zu) oft ins Online-Kreuzfeuer

Ich habe für diesen Text dreimal neu angefangen zu schreiben. Einmal hatte ich zwischendurch sogar keinen Bock mehr, weil immer wieder unbelehrbare Meinungsmacher in den Foren auftauchten, die doch langsam mal begriffen haben müssten, wie der Fußball-Hase läuft. Nur immer alles schlecht zu reden, das kann es nicht sein…
Wir in der Redaktion waren Sonntagnachmittag auch gefrustet, und was soll Kollege Henrik sagen, der zu dem Zeitpunkt knietief im Schlamm von Wacken stand! Ein 2:2, das sich wie eine Niederlage anfühlte. Der typische rote Einbruch, bei dem quasi um Gegentore gebettelt wurde, zum kotzen Und trotzdem hat nicht nur das Trainerteam ein zu weiten Teilen gutes Auswärtsspiel von uns gesehen. Ich erkläre Euch jetzt mal, was ich nach solchen Spielen mache, bevor ich anfange, mich komplett subjektiv im Internet auszukotzen…:

1. Hund oder die Kinder schnappen und einen schönen Spaziergang machen. Internet aus und kurz mal Abstand suchen. Die Spiele der 2. Liga taugen gut dafür, da sie zur besten Zeit um kurz vor bzw kurz nach 3 zuende sind.

2. Zurück zuhause bloß nicht auf die Facebook-Seite von Hannover 96 gehen! Da toben sich alle Wutfans aus. Stattdessen mal die Statistiken des Spiels bei OneFootball oder Transfermarkt anschauen und mit den eigenen Eindrücken abgleichen.

3. Mit einigen Stunden oder einem Tag Abstand das Spiel mal in Relation zu vorherigen Spielen sehen. Schauen, ob der Gegner gerade vielleicht eine bockstarke Phase hat. Eine Tendenz erkennen. Wo hakt es, woran hat es gelegen? Wiederholen wir Fehler, hat der Trainer etwas geändert?
Oft kommen hinterher auch einige Erklärungen heraus, die die Kameras nicht einfangen konnten, wie z. B. eine Verletzung, Halstenbergs Tochter in der Klinik die Nacht zuvor, versteckte Taktikwechsel des Gegners etc.

4. Besonders wichtig finde ich, möglichst viele Berichte, Stimmen und Analysen zum Spiel zu hören, zu sehen und zu lesen. Nur so entsteht ein annähernd umfassendes Bild vom Spiel.

Jetzt noch kurz ein Blick auf Nürnberg:

96 hatte hatte dank frühen Anlaufens 22 Balleroberungen durch hohes Pressing (Nürnberg nur 7), und insgesamt wurde in der ersten Hälfte erfreulich wenig zugelassen. Ein Ergebnis aus der Umstellung im Mittelfeld.
In der Praxis allerdings zog Nürnberg-Trainer Fiél nach dem 0:2 alle Register und wechselte vier Nürnberger auf einen Schlag. Das brachte frisches Blut und eine neue Dynamik ins Mittelfeld, gegen die es jeder Gegner schwer gehabt hätte. Bei „nur“ 2:0 flatterten plötzlich unterbewusst die Nerven und der FCN hatte uns am Wickel. Das Spiel kippte zu Gunsten der Nürnberger und wir rannten hinterher, anstatt rennen zu lassen.

Wie schon gegen Elversberg meldete sich das 96-Nervenkostüm bei hohem Gegenpressing.

Viele Fans rufen aktuell nach einer sofortigen Umstellung auf 4er Kette. Das hätte in Halbzeit zwei vielleicht sogar Sinn gemacht. Wir hatten im Rückblick auf die letzte Saison allerdings schon einmal analysiert, dass sich Stefan Leitl zu Beginn der damaligen Rückrunde mit der 4er Kette mehrmals die Nase blutig gestoßen hatte. Von Angsthasenfußball war die Rede. Lange Bälle nach vorne, kein Spielaufbau, Ihr könnt Euch sicher erinnern.

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Die ersten erfolgreichen Begegnungen der Hinrunde und auch die letzten der Rückrunde wurden im 3-5-2 gespielt.
Mit der Verpflichtung von Marcel Halstenberg und Brooklyn Ezeh haben wir diese Saison bessere Optionen für eine Kette mit vier Mann. Diese muss aber erst eingespielt werden, weshalb der Test gegen eine regionale Auswahl in der Länderspielpause interessant wird. Bis dahin tun wir gut daran, bei unseren Prinzipien zu bleiben.

Nun zum Vorwurf, Stefan Leitl bevorzuge immer nur seine Lieblinge:

Stefan Leitl wird für sein taktisches Konzept vorschnell kritisiert – Ruhe zum Etablieren einer Formation gibt es im Hannover-Umfeld nicht.

Mag sein. Wenn wir hier über Harvard Nielsen und Max Christiansen diskutieren, so kennt Leitl die Spieler eben noch aus Fürth oder sogar aus Ingolstadt. Er weiß, was er von ihnen erwarten kann und hat beide zudem als Leader nach Hannover gelotst. Solche Typen brauchst Du als verlängerten Arm auf dem Platz. Und du wirfst sie wie im Fall von Harvard Nielsen am Samstag in entscheidenden Phasen in die Schlacht, weil sie wichtig sind und eine Präsenz besitzen. Nicolo Tresoldi war sichtlich platt und ging mit einem Grinsen vom Platz. Als dank umarmte er den Trainer und alles war gut. Nielsen verzeichnete daraufhin in 30 Minuten Einsatzzeit so viele Läufe, Zweikämpfe etc. wie Nicolo Tresoldi in seinen 60 Minuten davor. Das spricht für eine intensive letzte halbe Stunde. Muss man am Laptop also nicht wieder alles anders deuten. Ich bin auch riesiger Fan von unserer #9, aber man muss auch mal die Kirche im Dorf lassen…

Zurück zu Max Christiansen:
Für das aufmerksame Auge waren deutliche Verbesserungen zur Vorwoche erkennbar. Marcel Halstenberg und Max Christiansen wirkten besser integriert und sicherer in der Ausübung ihrer Rollen. Christiansen als Hybrid aus spielendem 8er und ausputzendem 6er, mit der besten Laufleistung des Nachmittags von 12,36 Kilometern. 5 von 6 angekommenden lange Bälle. Fast 100% gewonnene Zweikämpfe. Halste als Abwehrchef mit wachsender Übersicht und Ideen im Spielaufbau. 82% bzw 86% an Passgenauigkeit sprechen Klartext. Dazu ein Fabian Kunze, der die stark umkämpfte Mitte beackerte (90% Passquote). Erwähnenswert sind die Mehrzahl an langen Pässen, die im letzten Spiel noch fehlten.

Gut anzusehen waren mutige Eröffnungen aus unserer 3er Kette heraus. Arrey-Mbi, Neumann und Halstenberg mit Antritten und kleinen Rondos in die nächsten freien Räume, um von dort zu übergeben. Auch Max Christiansen, Derrick Köhn und Fabian Kunze mit Körpertäuschungen, um sich dem engen Zugriff zu entziehen. Das sah deutlich mutiger aus und wurde geradlinig nach Vorne getrieben.

Auch wenn es erneut zwei Gegentreffer gab: Die Hintermannschaft wirkte gegen Nürnberg stabiler, agiler und in seinen Aktionen effektiver.

Ein Problem, auf das wir schon letzte Woche hingewiesen hatten, zeigte sich leider auch in Nürnberg wieder deutlich. Auf unserer vorderen rechten Seite klaffte ein Vakuum, in das Jannik Dehm als Schienenspieler stoßen müsste, es aber zu selten tat. Damit schob Louis Schaub immer wieder von der zentralen 10 auf die Außen und verstrickte sich in Dribblings, ein Ort, der nicht unbedingt seine Kernkompetenz sein sollte. Die Heatmap zeigt dies ganz anschaulich. Dehm und Schaub folglich mit nur knapp über 60% erfolgreichen Pässen, weil auf rechts die Anspielstationen fehlten. Max Christiansen braucht noch das eine oder andere Spiel, um auf der 8 auch Spieler wie Köhn und Dehm besser in Szene zu setzen. Hier könnte auch die baldige Rückkehr von Sei Muroya in den Kader wichtig werden, denn genau seine Drecksarbeit und Flankenläufe fehlten uns in der ersten beiden Spielen.

Auf links sollte Stefan Leitl über Brooklyn Ezeh in der Startelf nachdenken. Derrick Köhn bringt seinen Drive momentan leider nicht wie gewohnt auf den Platz und nimmt unserer Spielidee daher etwas den Sinn.

Zwei Mannschaften mit klar erkennbaren Defiziten servierten uns ein letztendliches Unentschieden, wie es klassischer nicht sein konnte: Laufleistung, Topspeed, Passquote, Zweikampfquote, alles bis aufs Prozent fast ausgeglichen! Man gönnte sich gegenseitig nix und bot biedere Malocher-Kost. Hannover bis zur 65. Minute klar stärker, danach Nürnberg mit mehr Glück. Am Ende holen wir unser zweites Unentschieden und zeigen einen besseren Start als noch letzte Saison. Daraus sollte man nicht schon wieder ein Drama machen…

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