Jetzt ist der Abstieg Realität – einmal kurz durchatmen ist erlaubt, doch dann sollten die Verantwortlichen des Hamburger SV keine Zeit verschwenden und sich mit der harten Realität der zweiten Bundesliga auseinandersetzen.
Auch wenn ich mich als Gründer von 96Freunde.de normalerweise mit Hannover 96 beschäftige, habe ich in den letzten Tagen interessehalber viel in Hamburg-Foren gestöbert und mit befreundeten HSV-Fans gesprochen. Mein subjektiver Eindruck: Viele Personen aus dem Hamburger Umfeld sind sich noch nicht voll bewusst, welch hartes Jahr in der kommenden Saison auf sie zukommen wird. „Wer ist schon Sandhausen?“, mag man sich denken, erst recht nach dem 2:1-Erfolg gegen Mönchengladbach. Doch es wird definitiv kein Spaziergang in der zweiten Bundesliga. Der direkte Wiederaufstieg des HSV ist, diese Illusion muss ich einigen HSV-Fans nehmen, kein Selbstläufer. Doch dazu gleich mehr.
Vor genau zwei Jahren musste Hannover 96 den bitteren Gang in die zweite Liga antreten. Es gibt drei erstaunliche Parallelen zu der Abstiegssaison des Hamburger SV.
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- Sowohl der Hamburger SV als auch Hannover 96 wechselten zu Beginn der Rückrunde ihre Trainer. Während beim Hamburger SV Bernd Hollerbach die Wende misslang (3 Punkte aus 7 Spielen), war es bei Hannover 96 Thomas Schaaf, der mit einer einmaligen Niederlagenserie zu Beginn der Rückrunde die Hoffnungen auf den Klassenerhalt zerstörte (10 Niederlagen in 11 Spielen).
- In der Winterpause verpassten die Sportdirektoren die Chance, mit gezielten Neuverpflichtungen den Kader aufzuwerten. Während beim Hamburger SV Jens Todt und Heribert Bruchhagen in fahrlässige Passivität verfielen, verpflichteten Martin Bader und Christian Möckel bei Hannover 96 sechs Spieler (u.a. Hugo Almeida), von denen sich keiner im Abstiegskampf als nützlich erwies.
- Erst im März, zwei Monate vor dem Saisonende, wurden mit Christian Titz und Daniel Stendel neue Trainer verpflichtet, die mit begeisterndem Offensivfußball der Mannschaft und dem Umfeld neues Leben einhauchten. Ähnlich wie beim letzten Heimsieg des HSV gewann Stendels 96-Team gegen Borussia Mönchengladbach in einem denkwürdigen Heimspiel mit Kampfgeist und Siegeswillen. Doch beide Trainerentscheidungen kamen letztlich zu spät. Sowohl Titz als auch Stendel mussten mit ihren Mannschaften den Gang in die zweite Liga antreten.
Vor allem der dritte Aspekt ist wichtig, um meine eingangs geäußerte Warnung zu verdeutlichen. Stendels Offensivfußball funktionierte in den letzten Erstliga-Spielen großartig, das gesamte Umfeld von Hannover 96 war euphorisiert. In den hannoverschen Tageszeitungen machte in der darauffolgenden Sommerpause sogar das (maßlos übertriebene) Schlagwort „FC Bayern der zweiten Liga“ die Runde. Wer solch überragenden Offensivfußball wie Stendels 96-Team spielt – so der einheitliche Tenor –, der wird doch die zweite Bundesliga ähnlich dominieren wie der Rekordmeister aus München die erste Liga. Das dachten sowohl Medien als auch Fans und wohl insgeheim auch die 96-Verantwortlichen.
Was für ein gewaltiger Irrtum.
In der zweiten Bundesliga weht ein anderer Wind. Zweitligateams wie Sandhausen und Aue versuchen gar nicht erst, spielerisch mit dem übermächtigen Erstliga-Absteiger mitzuhalten. Es ist gar nicht ihr Ziel, gegen den Favoriten zu gewinnen. Diese Mannschaften feiern ein 0:0 gegen den namhaften Absteiger wie einen Sieg. Dafür verbarrikadieren sie sich mit 11 Mann für 90 Minuten in der eigenen Hälfte. Spielerisch sind solche Bollwerke kaum zu knacken, es gelingt nur mit der Brechstange – oder eben gar nicht.
Daniel Stendels Offensivfußball stieß gegen solche Mannschaften schnell an seine Grenzen. Die Euphorie aus den letzten Bundesligaspieltagen war im harten Zweitligaalltag schnell erloschen. Nur zu gut ist den Hannover 96-Fans das 0:0 gegen Sandhausen vor der Winterpause in Erinnerung geblieben, welches die aufkeimende Trainerdiskussion während der Weihnachtswochen stark anheizte.
Nachdem der VfL Wolfsburg die Relegation für sich entschieden hat, wird der Hamburger SV nächste Saison 16 Mannschaften in der zweiten Liga als Gegner haben, die nur darauf brennen, dem HSV das Leben schwer zu machen. Für manchen Spieler von Magdeburg, Heidenheim oder Regensburg wird das Duell gegen den HSV das Spiel ihres Lebens sein (keine Übertreibung!). In solchen Spielen wachsen die Außenseiter für gewöhnlich über sich heraus. Kurzum: 32 von 34 Spielen werden für Hamburg in der nächsten Saison Endspiel-Charakter haben.
In der Kaderplanung müssen diese besonderen Umstände – gegnerische Abwehrbollwerke, harte Gangart des Gegners, Endspiel-Charakter – angemessen berücksichtigt werden. Einige Spielertypen, die in der höheren ersten Bundesliga spielerisch überzeugen, sind von der zweiten Bundesliga schlicht überfordert. Ich denke bei Hannover 96 da an Iver Fossum, ähnlich wie Luca Waldschmidt ein filigraner Techniker mit viel Ballgefühl, der in der Rückrunde gegen den Hamburger SV mit einem gekonnten Weitschuss das Führungstor erzielte. Fossum war in der zweiten Bundesliga jedoch brutal überfordert: Er wurde von seinen Gegenspielern in harten Zweikämpfen regelmäßig kaltgestellt.
Auch wenn die Zweitligasaison beileibe nicht einfach wird, drücke ich Hamburg die Daumen, dass beide HSVs sich in einem Jahr in der ersten Bundesliga wiedersehen. Bis dahin ist Hannover 96 „der große HSV“.
Die Lieblingsfolgen vom 96Freunde-Podcast mit Altin Lala, Florian Fromlowitz und Ewald Lienen. Viel Spaß beim Reinhören!
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Wir können gerne der große HSV bleiben, da können die Hamburger gerne unten bleiben
Ansonsten hinkt der Vergleich mit der Endphase der 1. Liga-Saison meines Erachtens etwas. Während Hannover quasi erst groß aufspielte als die Nummer schon gelaufen war haben die Hamburger sogar noch unter realistischen Klassenerhaltschancen gespielt also gewissermaßen noch mehr Druck gehabt.
Moin Jan, da hätte ich auch nichts gegen. Wenn man sich darauf einigt, dass der Titel „großer HSV“ an denjenigen HSV mit der längeren Ligazugehörigkeit geht, haben wir ja erstmal dann die Nase vorne 😀
Ein guter Einwand. Wobei auch Hamburg Mitte der Rückrunde schon gefühlt abgestiegen war (auch in der Hamburger Eigenwahrnehmung). Ein guter Beleg dafür ist, dass der HSV dieses Jahr 17 Punkte nach dem 24. Spieltag hatte – genau so viele Punkte hatte Hannover auch am 24. Spieltag in der Saison 2015/16.
Dass der HSV trotzdem so lange noch hoffen durfte, lang vor allem an der besonderen Tabellenkonstellation und dem unverhofften Unvermögen der Mitkonkurrenten. Als Titz von Hollerbach Mitte der Rückrunde übernommen hatte, war das ja auch schon das Eingeständnis der HSV-Verantwortlichen, dass man schon für die zweite Liga plant (sonst hätte man ja einen klassischen Feuerwehrmann geholt). Insofern ist der Vergleich doch gar nicht so weit hergeholt (auch wenn er natürlich nicht deckungsgleich mit Hannover 96 vor zwei Jahren ist, da gebe ich dir Recht).