Hannover 96 international: Unser Fanclub in Sierra Leone

Der Fanclub von Hannover 96 in Sierra Leone.
Der Fanclub von Hannover 96 in Sierra Leone

Beim Scrollen durch die sozialen Medien stieß ich vor einiger Zeit auf Fotos, die Kinder und Erwachsene zeigen, irgendwo in Afrika. In Hannover96-Trikots jagen sie ausgelassen dem Ball hinterher. Im Tagesgeschehen ging diese Entdeckung erstmal wieder unter, doch bei den nächsten Fotos – einige Monate später – entschloss ich mich, der Geschichte hinter den Bildern nachzugehen… 

So stieß ich auf Michael Miezal und seiner Liebe zum kleinen westafrikanischen Staat Sierra Leone. Michael hat Beruf und private Begeisterung für das kleine Land mit seinen 8 Millionen Einwohnern vermischen können. Sierra Leone liegt an der Küste des Atlantiks, schließt an die Staaten Liberia und Guinea an, und zählt zu den ärmsten Ländern auf dem Kontinent. Trotzdem reist Michael, der nebenbei über ein umfangreiches Wissen über die Geschichte von Hannover 96 und Fußball im Allgemeinen verfügt, immer wieder gerne dort hin. Dies ist seine Geschichte, bevor wir im nächsten Teil mit dem Leiter des Fanclubs, Abu Gbonda, reden.
Michael, stell Dich bitte kurz vor, und wie lange bist Du schon Hannover 96-Fan? 
Ich bin in Hannover geboren und aufgewachsen. 96-Fan bin ich, seit ich das erste Mal vor mehr als 50 Jahren im Stadion war. Da war ich 12, denke ich, vielleicht auch früher. Mit 32 ging ich beruflich nach Sierra Leone und hab das Pokalfinale 1992 in gut 7.000 Kilometer Entfernung am Radio verfolgt. Anschließend erzählte ich voller Begeisterung allen Leuten, dass wir als Zweitligist Pokalsieger geworden sind, aber das schien von meinen sierra-leonischen Freunden niemand so richtig zu verstehen. Knapp ein Jahr später wurde ich bei einem versuchten Raubmord so schwer verletzt, dass ich per Rettungsflug ausgeflogen werden musste, mit zwei Kopfschüssen. Eine Kugel ins Genick hatte nur um 5 Millimeter meine Wirbelsäule verfehlt. Ich bin dankbar, dass meine Gesundheit soweit wieder hergestellt wurde – abgesehen von zwei Zähnen, die rausgeschossen wurden, von denen aber einer sowieso gezogen werden sollte.
Viele fragen sich (und mich), warum ich nach so einem dramatischen Erlebnis immer noch dorthin reise. Ich sage dann, dass ich einen guten Impfschutz habe, sogar mit Blei geimpft bin. Außerdem kenne ich das von anderen Leuten, die mal in Afrika gelebt haben: es ist, als habe man sich mit einem Virus infiziert, der einen immer wieder dorthin zieht. Sierra Leone gehört einfach untrennbar zu meinem Leben dazu.  Ansonsten bin ich verheiratet, habe vier erwachsene Kinder, drei Enkelkinder, lebe in Lemgo – wo aktuell an gefühlt jeder zweiten Laterne 96-Aufkleber zu sehen sind, aber es ansonsten eher Dortmund-, Schalke- oder Gladbach-Fans gibt. Ich arbeite meist im Home-Office, aber auch im Büro in Hannover.
Bitte beschreib einmal kurz, was Inter-Mission genau ist, für die Du arbeitest, und wie international Ihr aktiv seid. 
Mit Inter-Mission bin ich seit mehreren Jahrzehnten verbunden, habe dort phasenweise ehrenamtlich oder in Teilzeit und im Vorstand gearbeitet und betreue vor allem unsere Projekte in Sierra Leone. Da wir hierfür auch Mittel vom BMZ (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) bekommen, ist daraus seit zwei Jahren ein Vollzeitjob geworden, um all die Arbeit zu bewältigen. Im September feierten wir 60 Jahre Inter-Mission. Indien war und ist der Hauptschwerpunkt unserer Projektarbeit. In Sierra Leone sind wir seit 25 Jahren engagiert und feiern somit auch ein kleines Jubiläum. In den letzten Jahren sind mehrere Länder dazu gekommen, die meisten davon in Afrika, zum Beispiel Madagaskar, Ghana, Uganda, Simbabwe, aber auch in Nepal und auf den Philippinen unterstützen wir Projekte. Insgesamt arbeiten wir zurzeit in 14 Ländern. Der Fokus liegt meist auf Unterstützung von Kindern und Jugendlichen, die aus benachteiligen und armen Verhältnissen kommen. Oder – wie in einem Projekt, das wir vor kurzem in Sierra Leone erfolgreich abgeschlossen haben – gegen die dort verbreitete Genitalverstümmelung von Mädchen.  Ein besonders erfreuliches Ereignis war letztes Jahr die Eröffnung der ersten inklusiven Sekundarschule für sehende und sehgeschädigte Jugendliche in Sierra Leone. Und ich könnte weitere sinnvolle Projekte aufzählen, von denen ich begeistert bin und die jungen Menschen zugutekommen, die sonst kaum eine Chance hätten.

Hannover 96 in Sierra Leone: Eine außergewöhnliche Geschichte

Wie kam die Verbindung zum Fanclub in Sierra Leone zustande? Kannten die Menschen denn vorher schon unseren Verein? 
Eines Tages – es ist mehr als 10 Jahre her – rief mich ein Freund und Verantwortlicher der „Roten Kurve“ an und erzählte mir, dass in Sierra Leone jemand einen Hannover 96-Fanclub gründen möchte. Ich erinnere mich noch an seine Worte: „Da steckst Du doch bestimmt dahinter“. Aber auch als er mir Name und Anschrift durchgab, konnte ich nur sagen: „Keine Ahnung!“ Ich versprach natürlich, Abu Gbonda, den Gründer des Fanclubs, bei meiner nächsten Reise zu besuchen und mal zu schauen, was es mit dem Fanclub auf sich hat. Mein Verdacht, dass es sich um eine Art Briefkastenfirma handelt, die einfach nur ein paar Werbegeschenke abgreifen wollte, wurde bei meinem ersten Besuch sofort zerstreut. Etwa 30 Mitglieder empfingen mich mit einer riesigen 96-Fahne zu einem Meeting. Man nahm mich auch gleich auf und händigte mir einen Mitgliedsausweis aus. Ich war ziemlich überrascht über die gute Organisation. Natürlich habe ich Abu gefragt, wie er darauf gekommen ist, einen 96-Fanclub zu gründen. Er erzählte von einer Sportwette – zu der Zeit als 96 noch international spielte. Da er bei der Wette auf 96 setzte und gewann, meinte er, müsse das ein guter Verein sein.
Sierra Leone ist eins der ärmsten Länder Afrikas. Es gab Bürgerkriege und zuletzt einen Ebola-Ausbruch. Und dennoch stiftet ein weit entfernter Fußballverein scheinbar Ablenkung und Hoffnung… 
Ja, definitiv. Ein Freund erzählte mir, dass während der Ebola-Epidemie eine Ausgangssperre verhängt war. Weil man in Sierra Leone aber fußballverrückt ist, suchte man heimlich versteckte Sportsbars auf, um Spiele live zu sehen – trotz der angedrohten Strafen. Während des brutalen Bürgerkrieges trat Fußball verständlicherweise in den Hintergrund. Erst im Anschluss lebte die Begeisterung wieder auf, auch zum Beispiel in Form einer Amputiertenmannschaft mit Kickern, denen von Rebellen ein Bein abgehackt wurde. Es gibt sogar eine Nationalmannschaft von Beinamputierten, die im Mai am ersten African Amputee Football Cup of Nations teilgenommen hat. Und im vorletzten Jahr gab es eine unglaubliche Euphorie im ganzen Land, weil man sich nach 24 Jahren mal wieder für den Africa Cup of Nations (AFCON) qualifiziert hat. Ich kenne John Keister, der zu der Zeit Nationaltrainer war. Er hat Unglaubliches mit der Mannschaft dieses kleinen Landes erreicht, unter anderem jeweils ein Unentschieden im Hin- und Rückspiel gegen einen so mächtigen Gegner wie Nigeria. Im Hinspiel erzielte man nach einem 0:4 Rückstand noch ein 4:4. All das zeigt, welche – wohl auch heilsame – Rolle der Fußball in diesem Land spielt.  Auch Hannover 96 trägt dazu bei. Allein der Kontakt ist eine Ermutigung, auch die vielen Trikots und andere Sachen aus der Fußballschule, die mir zur Verfügung gestellt werden und die vor Ort zu verteilen immer eine Riesenfreude auslöst. Damals direkt nach der Ebola-Epidemie rief mich ein 96-Fan an und spendete 696,96 Euro, damit Abu für einige der Kids Schulmaterial kaufen kann.
Werden die Spiele der Roten auch live im TV geschaut, und wie aufwändig ist das?
Zurzeit leider nicht, soweit ich weiß. Vor allem die Spiele der Premier League, aber auch der ersten Bundesliga werden in zahlreichen Bars übertragen. Also demnächst auch wieder Spiele unserer Roten 😉
Abu selbst hatte auch mal eine Sportsbar, aber die war leider nicht mehr in Betrieb, als ich ihn kennenlernte, was ich aber nicht wusste. Genau am Tag meiner Anreise fand nämlich das Derby gegen Peine Ost statt, damals in der ersten Liga. Ich bin dann lange in Freetown umhergeirrt, bis ich endlich eine Sportsbar fand, wo ich noch die zweite Halbzeit schauen konnte. Nebenbei gesagt war das Spiel zum Vergessen, 3:0 Niederlage. Rehabilitation erst durch das unvergessene Kopfballtor von Fülle 3 Jahre später.
Wie populär ist Fußball eigentlich im Land?
Es ist die mit großem Abstand populärste Sportart. Überall im Land gibt es einfache Fußballplätze. Abends in Hotels oder in Bars laufen immer Spiele (hauptsächlich Premier League, Champions League, Europa League). Viele Leute kennen sich gut aus und kennen auch deutsche Spieler. Antonio Rüdiger hat neben der deutschen auch die sierra-leonische Staatsbürgerschaft und wurde 2022 vom Präsidenten zum Fußball-Botschafter des Landes ernannt. Als er zu dem Anlass in Sierra Leone war, besuchte er auch einen guten Freund von mir, der etwas außerhalb von Freetown ein Restaurant am Strand betreibt. Er meinte, das war wie ein Staatsbesuch mit vielen Schaulustigen. Viele der aktiven Kicker haben auch die Hoffnung, es eines Tages so weit zu bringen wie Toni oder andere bekannte Vorbilder wie Mohamed Kallon. Wenn man sonntags am Lumley Beach in Freetown spazieren geht (auch sonst überall im Land), sieht man Mannschaften trainieren, auch das sierra-leonische 96-Team. Denn die Aktivitäten des Fanclubs umfassen auch verschiedene Mannschaften, die – meist sehr erfolgreich – an Wettbewerben teilnehmen.

Hannover 96 profitiert vom Fußball-Hype

Ihr habt noch andere Länder, in denen Ihr aktiv seid und helft. Wie ist dort der Bezug zu Hannover 96?
Ehrlich gesagt gibt es in anderen Ländern, in denen wir aktiv sind, keinen Bezug zu Hannover 96. In Indien, wo wir uns seit 1964 engagieren, ist Cricket die Sportart Nummer 1. Damit kann ich persönlich wenig anfangen. Ich habe auch unsere Projekte in Ghana betreut und war mehrmals vor Ort. Als 96er denke ich da natürlich an Größen wir Gerald Asamoah und Otto Addo.
Ich habe schon früher in den Hannover-Gruppen Fotos von Aktionen gesehen, bei denen Ihr vor Ort Bälle und Trikots aus Hannover verteilt. Kannst Du etwas zu diesen Aktionen berichten, finden sie regelmäßig statt?
Ich bin ein oder zweimal pro Jahr in Sierra Leone und nehme immer einen zusätzlichen großen Koffer mit Trikots, Trainingsklamotten, Bällen usw. mit. Es ist einfach unglaublich schön, in glückliche Kinderaugen zu sehen, wenn ich die Sachen verteile. Wir haben uns auch schon am Versand von Containern beteiligt und Sachen mitgeschickt. Die Geschäftsstelle von Hannover 96 war da auch immer sehr hilfsbereit. Damals hat mir Thorsten Meier Sachen zum Mitnehmen vermittelt. Heute suche ich zusammen mit Juri oft einige ausrangierte Trainingsklamotten aus dem Lager aus, die ich dann mit rüber nehme.
Zieht Ihr als Organisation irgendeinen „Profit“ aus Eurer Arbeit, Wirtschaftsbeziehungen oder ähnliches? Glückliche Menschen mit Fußbällen etc zu sehen, an so einem Ort, ist sicher ein hoher ideeller „Profit“, oder?
Genau! Das ist jedes Mal etwas Besonderes zu erleben wie man einfach mit einem Trikot junge Menschen glücklich machen kann. Ein wirtschaftlicher Profit springt dabei überhaupt nicht für uns heraus. Als gemeinnützige Organisation wollen wir uns auf nachhaltige Hilfe konzentrieren. Deshalb gibt es auch Überlegungen, vielleicht in Zusammenarbeit mit dem sierra-leonischen 96-Fanclub Ausbildungsprojekte zu schaffen, um jungen Menschen in deren Umfeld eine Zukunftsperspektive zu geben. Die Situation besonderes für Jugendliche ist nämlich katastrophal. Viele greifen zu Drogen, zum Beispiel seit einiger Zeit Kush. Der Präsident hat wegen dieser sog. „Zombiedroge“ (weil angeblich etwas aus den Knochen von Leichen beigemischt wird) vor einigen Monaten sogar den nationalen Notstand ausgerufen. Überlegungen für ein solches gemeinsames Projekt gibt es bereits. Ich hatte einige Gespräche deswegen mit Rolf-Uwe vom 96-Fanclub Rote 12. Auch Martin Kind hat Offenheit signalisiert. Aber es macht viel Arbeit, ein gutes Konzept zu erstellen und dann umzusetzen. Mir fehlt dazu momentan einfach die Zeit. Mein Wunsch wäre es jedoch, solch ein Hilfsprojekt demnächst auf die Beine zu stellen.
Was für Fragen werden Dir von den Kickern vor Ort gestellt? Sind Sie mit Fußball made in Germany vertraut?
Ja, sie sind durchaus auch mit dem fußballerischen Geschehen in Deutschland vertraut, kennen Spieler und Vereine der Bundesliga und haben zum Beispiel die Europameisterschaft verfolgt. Die Partner, mit denen ich zusammenarbeite, schicken dann auch schonmal Kommentare oder drückten ihr Bedauern in Voice Nachrichten aus, als Deutschland unglücklich ausschied. Aber mehr noch als das, was im Profifußball in Deutschland geschieht, interessiert es sie, im Rahmen der Fanclub-Aktivitäten selbst zu spielen und irgendwann einmal die Chance zu bekommen, Karriere zu machen – am liebsten in einem deutschen oder europäischen Profiklub. Ich sage dann immer, dass es gut ist, große Ziele zu haben, aber dass dies nur sehr wenige schaffen und es deshalb auch gut ist, noch einen Plan B zu haben.
Zum Schluss eine Frage, die uns in der Redaktion sehr wichtig ist: Wie kann man Eure Arbeit unterstützen, eventuell mit Shirts, Trikots oder ähnlichen?
Sehr gerne. Die Möglichkeiten sind vielfältig und reichen von Sachspenden wie zum Beispiel Shirts und Trikots bis hin zu allen Arten von Fanartikeln. Ich habe mal ein oder zwei Dutzend Hannover 96 Kugelschreiber aus dem Fanshop mitgenommen und war überrascht, sie man mir die aus den Händen gerissen hat. Geldspenden für den Fanclub, um beispielsweise Events wie Turniere zu finanzieren, sind ebenfalls willkommen.
Es gibt auch eine Crowd-Funding Seite, bei der man spenden kann, damit Abu mal einen Besuch in Deutschland machen kann:
Dazu gab es bereits zwei Anläufe vor ein paar Jahren, wo ich vieles in die Wege leitetete, aber es dann letztlich an den Finanzen für das Flugticket scheiterte. Verschiedene Formen ideeller Unterstützung sind ebenso denkbar, zum Beispiel wenn jemand gute Projektideen hat oder mit seinem Know-how etwas beisteuern kann, vor allem im Blick auf das erwähnte Ausbildungsprojekt.
Und so verblieben Michael und ich erstmal bis zur Veröffentlichung dieses Artikels. Wir haben beschlossen, diese Spendensammlung mit Hilfe der Reichweite von 96freunde.de nochmal zu forcieren. Wer also gerne etwas beitragen mag, wie Trikots, Bälle, Aufkleber, Schals etc, der kann uns gerne eine Email schreiben für weitere Infos:

Stevenelpogo1@web.de

Auch der Go Fund Me-Aktion ist weiterhin aktuell, um unseren Freund Abu möglichst bald mal nach Hannover zu holen und ihm Stadt und Stadion zu zeigen!
Das Interview mit Abu könnt Ihr dann in den nächsten Tagen hier lesen!

Die Lieblingsfolgen vom 96Freunde-Podcast mit Altin Lala, Florian Fromlowitz und Ewald Lienen. Viel Spaß beim Reinhören!

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1 Kommentar

  1. Eine sehr beeindruckende Geschichte 

    Eine sehr beeindruckende Geschichte. Vor allen Dingen, was für eine verbindende Wirkkraft der Fußball haben kann Das klingt zwar mittlerweile etwas banal, aber hat nichts an Anziehung verloren. 
    Ich selber bin übrigens auch seit sechzig Jahren 96 Fan, lebe in der Nähe von Frankfurt und bin auch beruflich mit sozialen Projekten im Fußball beschäftigt. Ich arbeite in der Koordinationsstelle Fanprojekte, die in Deutschland aktuell 70 Standorte betreut (www.kos-Fanprojekte.de) ich würde mich sehr gerne über einen Kontakt und Austausch freuen. Mit 96 Grüßen Gerd

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