Von Steven Gläser
Es war ein gebrauchter Nachmittag im Niedersachsenstadion. Das erste Heimspiel der Saison, mit neuem Trainer, einigen neuen Gesichtern und einer teilweisen Rückkehr der Fans in die Arena. Beste Voraussetzungen, sollte man denken. Nach dem mutig erkämpften Punkt in Bremen hatten die Fans der Roten Bock auf ein kleines Fußballfest. Ein Traumtor von Marvin Ducksch und eine muntere Mannschaftsleistung hatten uns schon wieder zu geilen Erfolgsfantasien verleitet…
Doch dann holte die Kogge aus Rostock die Enterhaken raus, unterstützt von weit mehr als 1000 mitgereisten Fans, und versenkte unsere Träumereien direkt mal im Maschsee…
Nach gefühlten Ewigkeiten endlich wieder Fußball in unserem Wohnzimmer, leider zwar mit „nur“ 22500 Plätzen und mit alkoholfreiem Bier, aber egal! Auch die neuen Preise sorgten im Vorfeld für großen Unmut, auch wenn sie keine 12 Stunden später wieder hektisch nach unten korrigiert wurden. In Hannover reagiert man bei sowas traditionell etwas überempfindlich. Anstatt so eine Chance nach 18 Monaten Pandemie trotzdem begeistert zu nutzen, eine Chance, für die viele andere Fans und Vereine ihren letzten Groschen geben würden. Nein, in Hannover wird lieber wegen der Maskenpflicht bis zum Sitzplatz gemeckert, wegen des alkoholfreien Biers, und wegen der Vorgabe, gleich zwei Karten zusammen kaufen zu müssen.
Für die ersten Flieger im Frühling nach Malle und Griechenland hätten viele der Kritiker noch freiwillig ohne zu blinzeln die Freundin verkauft, sich einer Darmspiegelung unterzogen, oder sich von Connor McGregor im MMA verdreschen lassen – um endlich wieder Party machen und Bierhelm-trinken zu dürfen. Im Niedersachsenstadion zählte man am Samstag hingegen nur wohlwollend 13.600 Zuschauer, wovon neben den rund 1000 Gästefans im Block noch weitere mehrere hundert Rostock-Supporter im weiten Rund verteilt waren.
Und die ließen dann schon beim Warmmachen ihrer Mannschaft keinen Zweifel daran, dass sie komplett on fire waren und den Favoriten in Hannover auffressen wollten. Schon als wir an der „Nordkurve“ auf ein Bier ankamen, hallte es lautstark aus dem Südbereich der Arena herüber. Da waren sich Spieler auch nicht zu fein, vor dem Gang in die Kabine nochmal geschlossen vor die blau-weiße Kurve zu gehen und sich für den akustischen Support zu bedanken! 96 hingegen war nur auf sich fokussiert, wo man doch mit Kontakt und ein paar dankbaren, anfeuernden Gesten sein Publikum bei der Heimpremiere sicher noch besser hätte abholen können. Den Bund mit den Fans hat man in anderen Stadien leider schon heißblütiger gesehen, aber da fahren die Supporter ja auch hunderte von Kilometern, um dabei zu sein… Ist in Hannover halt weiterhin eher wie eine erkaltete „alte Liebe“…
Ok, ohne große Probleme kam ich mit meinem Schwiegervater aus Meck-Pomm im Unterrang auf der West an, wo die Stimmung wie auf der Nord gut und bemüht war. Gegen weit über 1000 Support-erprobte Rostocker, die sogar noch durch ein großes Blockbanner und eine Trommel Stimmung machten, war das Gegensingen natürlich hart – hätte aber klappen können. Denn in der ersten Halbzeit trat 96 in allen Belangen dominant auf, was sich am Ballbesitz und den gewonnenen Zweikämpfen erkennen ließ. Immer wieder wurde gut und frühzeitig gestört. Hier gefiel mir besonders Sebastian Stolze, der auf der kompletten rechten Außenbahn immer wieder die Gegner stellte, Bälle abjagte und nach vorne trug.
Sein Gegenüber auf der linken Seite, Flo Muslija, hatte da schon größere Probleme. Er konnte seine Finten nicht ausspielen, verdribbelte sich bis zu seiner Auswechslung zu oft und verlor unnötig Bälle. Das sah in Bremen noch weit besser bei ihm aus. Stolze hingegen kam aber auch selten gefährlich ins letzte Drittel, weil vorne in Person von Sebastian Kerk und Marvin Ducksch zu wenig angeboten wurde, oder Rostock immer wieder resolut klären konnte.
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Das Problem, dass man zu oft zu ideenlos und zu behäbig durch die Mitte wollte, wurde schnell sichtbar. Da fehlte das Tempo auf den Flügeln und das schnelle Anlaufen im letzten Drittel. Hier sollte das Fehlen von Linton Maina (positiver Conronatest) und Lawrence Ennali noch zum entscheidenden Match-Fact werden… Allerdings frage ich mich, warum Jan Zimmermann hier nicht andere schnelle Flügelspieler wie Bokake, Gudra oder Stehle in den Kader holte…?
Der fehlende Punch in der gegnerischen Hälfte führte auch über Sebastian Kerk, der insgesamt blass blieb und sich selten in Szene setzen konnte. Sebi Ernst als 8er und Antreiber war zu sehr mit Scharmützeln rund um die Mittellinie beschäftigt, als dass er vor dem 16er der Rostocker kreativ werden konnte. So griff an diesem Nachmittag leider gar nix ineinander, was eine Woche vorher in Bremen noch von einem neuen tollen Spielsystem schwärmen ließ…
Hier wäre es wichtig, dass der Trainer nochmal das schnelle Abspiel in die Tiefe üben lässt, denn von dem Mut für vertikale Pässe war nix mehr zu sehen. Ergebnis war, dass Marvin Ducksch in der Spitze verhungerte. Auch Schüsse aus der 2. Reihe sollten vom Coach nochmal mehr gefordert werden. Wie oft erleben wir es auf allen Plätzen der Republik, dass mutige Fernschüsse belohnt werden! Es war nur sinnbildlich, dass einer der wenigen Schüsse, von Sebi Ernst, mit dem Platzen des Balls endete…
Kommen wir nun zum zentralen Problem in der Mannschaft und im System von Jan Zimmermann:
Es fehlt immer noch ein echter, gelernter Sechser!! Ein defensiver Anker, der die Offensive anschiebt und ihr den Rücken frei hält. Der den Gegner auch mal dreckig stoppt. Hansa Rostock hatte an diesem Tag (zu Recht) unseren 6er Dominik Kaiser als Schwachstelle ausgemacht und spielte fast jeden Ball zum Kopfballduell auf seine Position. Schon Ende der ersten Halbzeit war der kurze Kaiser von den Zweikämpfe zermürbt und somit der Raum vor unserem 16er sturmreif bearbeitet…
Den zweiten Schwachpunkt hatten die Gäste von der Ostsee in Ron-Robert Zieler fokussiert. 3 bis 4 Versuche brauchte es, um zu erkennen, dass unsere Nummer 1 heute nicht die Sicherheit von Bremen besaß. Und so spielte bei den Gegentoren folgerichtig zusammen, was augenscheinlich fehlfunktionierte: Ein schlecht geklärter Ball landet im Feld vor dem 16er, das nicht besetzt und verteidigt wird, Bogenlampe (Tor 1) beziehungsweise Schlenzer (Tor 2), und Rostock zeigt Hannover eiskalt die lange Nase.
Nach dem 0:2 wird auch ohne Taktikwissen offensichtlich, dass Hannover weiterhin der Mut fehlt, den Ball mal hoch in den Strafraum zu pölen oder flach auf Ducksch oder den inzwischen eingewechselten Henne Weydandt zu stecken. Bälle werden zu langsam, zu spät oder gar nicht gespielt. Einwürfe sind keine Würfe, sondern enden im Klein-Klein. Alles, was Fußball schnell, unvorhersehbar und für den Gegner gefährlich machen kann, es fehlte 96 an diesem rabenschwarzen Samstag.
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Mein Schwiegervater war auf dem Heimweg natürlich oben auf, und es sei ihm gegönnt. Hannover und seine Fans hatten sich frech und eiskalt die Butter vom Brot nehmen lassen! Die Frage, die wir uns stellen sollten, ist wie oft wir uns diese Saison eigentlich noch die Stimmung und die Punkte aus unserem Niedersachsenstadion klauen lassen wollen! Während fast alle anderen Fangruppe mit Öffnung der Ränge sofort wieder auf Angriff und Support geschaltet haben, verstrickt sich unsere Fanszene lieber wieder in die alten Grabenkämpfe. Wie lange wollen wir eigentlich unsere Banner im Schrank und unsere Gesänge nur auf halber Lautstärke ertönen lassen? Müssen Trainer und Mannschaft eigentlich in Vorkasse gehen, bevor sie volle Unterstützung bekommen? Sind unsere Ultras nicht das Herz unserer Ränge, die Anheizer, der Motor? Und fehlen sie Euch auch so wie mir? Fragen über Fragen… Aber das sollten wir nochmal in einer anderen Kolumne diskutieren…
Sportliche Grüße, Steven
Die Lieblingsfolgen vom 96Freunde-Podcast mit Altin Lala, Florian Fromlowitz und Ewald Lienen. Viel Spaß beim Reinhören!
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