Quo Vadis

Da mich die viele negative Stimmung gegen unsere Mannschaft im Anschluss an das Derby genervt hat und ich eher Fan von faktenbasierter Diskussion bin, habe ich die Länderspielpause mal genutzt, um Hannover 96 anhand von Zahlen zu lesen und zu verstehen. Und siehe da, es fügt sich zu einem Bild und vieles ergibt plötzlich Sinn, was wir seit Januar auf dem Platz abliefern.. Erklärt das den Zustand von Hannover 96 seit der Winterpause…?

Das Spielsystem:
Trainer Stefan Leitl wechselt von Phase zu Phase, anstatt kompromisslos 90 Minuten lang seine Lieblings-Raute durch zu ziehen. Innerhalb der Spiele passt er die Taktik den Erfordernissen der Partie an, er hat dazu gelernt, wo ihm am Anfang der Saison noch Limitierung auf nur 1 System vorgeworfen wurde.

3-5-2/ 5-3-2:
Mein Favorit. Die Dreierkette kam das erste Mal im Hinspiel gegen Magdeburg zum Einsatz und wir wissen ja, was das am Ende für ein Fusballfest für uns wurde. Auch gegen Topteams wie Hamburg, Heidenheim, und im geilen Pokal-Fight gegen Dortmund traute sich Leitl die Dreierkette, immer mit knappen Ausgängen und Spielen auf Augenhöhe.
In diesem System strahlte die jeweilige Startelf meiner Meinung nach die größte Spielfreude aus, eventuell weil eine hohe Dynamik und eine Art Hurra-Fußball entstand. Nach Vorne eine Mehrzahl im Mittelfeld schaffen, hohes Pressing, 2. Bälle abfangen, und 2 starke Schienenspieler. Das sah nicht nur optisch gut aus, sondern brachte auch die meisten (Lern-)Erfolge. Im Rückwärtsgang hinten eng machen. Man kann eine wunderbare Spieleröffnung, flach von Hinten raus, zelebrieren. Und diese Ballsicherheit ist es auch, wonach die Mannschaft gerade strebt, sie ist hier am besten gegeben.

Stefan Leitl blieb gegen BS – ebenso wie die Fans -ratlos zurück.

Unser Problem war nur irgendwann, dass Defensivaufgaben schlampig ausgeführt wurden. Hier könnte man das Gespann Arrey-Mbi/Köhn nochmal weiter fit machen, das uns am Ende der Hinrunde viel Freude bereitete. Auf rechts haben wir zudem mit Muroya und Momuluh gute Optionen. Der Schwung, den wir teilweise über flotte Kombinationen aus dem Mittelfeld heraus mitnahmen, war immer wieder ein Gamechanger. Auch konnten in diesem System noch die meisten Spieler ihre bisherigen Topwerte bringen, bevor in der Rückrunde (ab dem Magdeburg-Spiel, vorher gab es 3 Niederlagen und ein schlappes Unentschieden) konsequent auf 4er Kette umgestellt wurde, um die Abwehr sicherer (aber auch statischer und risikoloser) zu machen.
Seitdem hat sich nichts zum Positiven entwickelt, auch die individuellen Werte schwächeln im Durchschnitt vor sich hin… Und siehe da, beim Test Ende März gegen St. Pauli feiert die 3er Kette plötzlich ihr Comeback, inklusive eines Julian Börner als Kapitän.

4-4-2 Raute:
96-Coach Leitl kam im Sommer 2022 nach Hannover, im Gepäck die viel diskutierte Raute. Im Grunde hatte jeder Gegner von da an bereits die Möglichkeit, sich auf diese Taktik ein zu stellen. Und tatsächlich mahnten Kritiker nach den 3 verlorenen Auftaktspielen an, daß man unbedingt einen Plan B brauche, um weniger ausrechenbar zu sein.
Gegen Magdeburg kehrte Leitl also zur Viererkette zurück und das Spiel mutierte fortan in den Versuch, mit langen, hohen Bällen auf die schnellen Spitzen einen Lucky Punch zu setzen. Allein so ein Versuch riecht schon nach voller Hose, denn viel öfter konnte man sich nicht mehr erlauben zu verlieren. Ein oder 2 weitere schwache Spiele später, machte der Eindruck die Runde, die Mannschaft wolle bloß nicht verlieren. Anstatt einen unbedingten Sieges-Willen zu zeigen. Die Abwehr schien stabilisiert und das Spiel wurde recht bieder aufgebaut. Geil sah das alles nicht mehr aus, und zwei Unentschieden gegen Rostock und Fürth wurden insgeheim wie Siege gefeiert.
Experten sehen die Viererkette mit aufgesetzter Raute als adäquates Mittel für eine unsichere Mannschaft wie 96, um sie erstmal zu stabilisieren.

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Die Spieler:
Man fragt sich seit Januar, warum einige Spieler ihrer Form hinterher laufen und nicht mehr so stark performen wie noch in der Hinrunde. Es gibt sicher immer Kicker, die nach einem Hoch mal ein Tief durchlaufen.
Wir müssen aber auch bedenken, daß die vielen, als Schlüsselspieler geholten Jungs gerade durch das Komplettprogramm an Spielsystemen gejagt werden. Sie kommen aus eingespielten Teams (Regensburg, Fürth, Bielefeld, Kiel…) und mußten für Hannovers neues Gesicht ihre Konfortzone verlassen. Das klappte nicht auf Anhieb, wie man sehen kann. Vielleicht waren es schlichtweg die falschen Spieler für eine sehr strikte Spielidee?
Leitl switcht inzwischen auch im Spielverlauf von einer Taktik zur nächsten, um auf Verläufe zu reagieren. Nicht jeder Spieler ist für jedes System gemacht, es erfordert viel Spielintelligenz, flexibel und schnell darauf zu reagieren. Sebastian Ernst kann natürlich auf der Doppelsechs spielen, ist aber effektiver auf der 10. Sein Mittelfeld-Kollege Max Besuschkow groovt sich gerade auf der 8 ein, wenn er mal von der anderen Doppelsechs vorrücken darf. Harvard Nielsen hingegen bleibt am wertvollsten auf der 10. Es bringt nix, Spieler auf andere Positionen zu ziehen, nur weil Mitspieler (Fabian Ernst, Enzo Leopold) dort schwächeln.
Zudem darf Stefan Leitl gerne öfters den Mut besitzen, jungen Talenten Einsätze zu schenken, wenn gestandene Spieler schwächeln. Moustier für Franke, Tresoldi für Weydandt, Arrey-Mbi für Börner. Ein Versuch wäre es wert.

Leistungen und Zahlen:
Man kann im Internet Leistungswerte finden, nach denen wir in der Rückrunde bisher im Grunde genauso „gut“ abliefern wie in der Hinrunde. Von einem kompletten Einbruch kann also keine Rede sein!
Der Unterschied momentan ist eben nur, daß uns die Effizienz und die damit verbundenen Tore verloren gegangen sind. Ich habe dazu nochmal meine Texte für 96Freunde.de aus der Hinrunde raus gekramt, und siehe da: viele Spiele konnten wir nur mit Glück, aber sicher nicht mit hochklassigem Spiel auf unsere Seite ziehen!

Im Vergleich hilft der Blick auf die Teams, die oben in der Tabelle stehen: Heidenheim, Paderborn, Hamburg, Darmstadt, und neuerdings auch St. Pauli. Da sind die individuellen Werte jede Woche im oberen Bereich, weil Teams und Trainer bereits über längere Zeit eingespielt sind (Ausnahme St. Pauli). Hannover 96 hingegen hat Ron-Robert Zieler und 10 andere bemühte Spieler, die Vertrauen und Konstanz brauchen. Und die nicht wieder den nächsten Trainer und den nächsten Umbruch verarbeiten wollen!
Schüsse, Pässe, Laufleistung, Balleroberungen, expected goals… Alles annähernd ähnlich zur Hinrunde. Nicht schlechter geworden. Verrückt, oder?

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Marcus Mann und Stefan Leitl hatten einerseits zum Ende der Hinrunde betont, man möge sich bitte nicht von den glücklichen Ergebnissen blenden lassen. Die gezeigte Leistung sei noch nicht das Gelbe vom Ei. Trotzdem war in Hannover bereits das große „Hurra, wir sind wieder da“ ausgebrochen.
Zudem einigte man sich, auch weiterhin ohne klassischen Torjäger in die Schlacht zu ziehen, und stattdessen das Toreschießen auf mehrere Schultern zu verteilen. Das war ein Risiko.

„Momentan weiß ich nicht, welchen Vorwurf ich meiner Mannschaft groß machen kann,“ gibt sich 96-Coach Stefan Leitl ratlos. Und Recht hat er, denn wäre das ein oder andere Tor und Sieg dazu gekommen, mit Glück oder wie auch immer, würden wir hier nicht so ein Fass aufmachen.

Die Mannschaft ließ in den zurückliegenden Spielen zu oft die Spielfreude vermissen.

Die Statistiken sagen aus, dass die Roten weiterhin viele Zweikämpfe führen. Diese werden aber weniger gewonnen. Das wäre eine Erklärung für ausbleibende Bälle in die Spitze und fehlende Tore.
Im Gegenzug machen die Gegner nach gewonnenen Zweikämpfen vor unserem Tor Alarm, mehr und effizienter noch als in der Hinrunde. Hier dürften die andauernden Leistungstiefs von Spielern wie Julian Börner, Fabian Kunze, Derrick Köhn, Phil Neumann und Harvard Nielsen signifikant sein.

Setzt man 96 mit seiner Statistik in eine Tabelle neben Klassen-Primusse wie Hamburg, St. Pauli, Heidenheim, Paderborn und Darmstadt, fallen anhand bloßer Zahlen sofort einige Dinge auf… :
Die Tore pro Spiel sind niedrig, weil wir deutlich weniger Großchancen kreieren als die Topteams. Nur Heidenheim ist in dem Punkt noch niedriger, schießt von allen aber die meisten Tore pro Partie und ist damit ungeheuer effizient!
Wir setzen im Vergleich zu diesen 5 Teams auch die wenigsten Torschüsse ab.
96 hat weniger Ballbesitz (48,6%, HSV 59,7) und bringt deutlich weniger Pässe an den Mitspieler (72,5%, HSV 83,1%).
Wir verbuchen ungefähr gleich viele gewonnene Zweikämpfe.
Daraus lese ich erstmal, daß wir zu wenig aus gewonnenen Bällen machen. Wir halten den Ball nicht gut und nicht lange genug.

Die Anzahl der erfolgreichen Dribblings wird nur vom HSV und Paderborn übertroffen. Bei gleichzeitig weniger Ballverlusten können sich diese beiden Teams kreativ nach Vorne präsentieren und schaffen sich somit mehr Chancen als die anderen hier genannten Teams. Ergebnis sind folglich die beiden höchsten Tor/Spiel-Quotieten der Liga!
Ergo muß Hannover 96 lernen, nachhaltiger mit dem gewonnenen Ball um zu gehen, anstatt ihn wieder mit Langholz nach Vorne zu pölen. Hier sind wir wieder beim spielerischen Ansatz des 3-5-2.

Hannover 96 ist vor der Saison ein großes Versprechen und ein großes Risiko eingegangen, indem man mit Marcus Mann endlich mal etwas Zukunftsträchtiges aufbauen wollte. Statt immer wieder Wasser aus Flaschen zu kaufen, sollte ein Brunnen gebaut und eigenes Wasser gefördert werden. Das Wasser sind hier konkurrenzfähige Spieler aus dem Nachwuchs. Talente, die bereits für die Bedürfnisse des Trainers ausgebildet wurden. Auch wurde das Scouting endlich mal zur Chef-Sache erklärt und Zweitliga-erfahrene Kicker nach Hannover gelotst. Das war im Sommer 2022, also gerade mal vor einem dreiviertel Jahr! Jedem Fan mit Fußballverstand sollte klar sein, daß diese Idee nicht sofort Früchte tragen würde. Geduld, Leute, wir brauchen bitte Geduld, wenn hier wirklich mal etwas Vernünftiges entstehen sollte!
Aber in Hannover tut man schon wieder so, als sei man der FC Bayern und müsse einen Nagelsmann wegen in Gefahr geratener Saisonziele in Frage stellen. Und dieses Ziel war im besten Fall ein einstelliger Tabellenplatz. Bitte laßt uns das nicht schon wieder mit Ungeduld einreißen!

Die Lieblingsfolgen vom 96Freunde-Podcast mit Altin Lala, Florian Fromlowitz und Ewald Lienen. Viel Spaß beim Reinhören!

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1 Kommentar

  1. perfekte Analyse. vielen Dank! Hoffentlich bleiben Trainer und Manager noch lange um das begonnene Konzept weiter umzusetzen.

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